flügelverleih für nachtschwärmer
Maria Hubinger, Astrid* Walenta
ISBN: 978-3-99126-056-1
27,5×27,5 cm, [72] Seiten, zahlr. vierfärbig gedr. Abb., fadengeheftes Hardcover
28,00 €
Neuerscheinung
In den Warenkorb
Leseprobe (PDF)
Kurzbeschreibung
SCHMETTERLINGSLEUCHTEN
Langsam versinkt die Landschaft im Dunkel der Nacht. Die Vögel und Insekten verstummen, Stille kehrt ein. Nur das leise Plätschern des Flusses begleitet mich aus weiter Ferne. Im Zwielicht der Abenddämmerung wird der „Leuchtturm”, eine rundum begehbare Leuchtwand aus weißem Netzstoff, installiert und die batteriebetriebene UV-Lampe im Inneren des Zylinders befestigt. Ausgerüstet mit Taschenlampe, Fotoapparat und Schutzbrille warte ich gespannt auf das Eintreffen der Falter. Jedes Rascheln und Knacken, das die Stille durchbricht, lässt mich unwillkürlich aufhorchen. Es ist aufregend, diesen ungewohnten Geräuschen in der Finsternis zu lauschen. Meine Neugierde auf Nachtfalter, die etwa 90 Prozent der heimischen Schmetterlinge ausmachen und die mir vor kurzem praktisch noch völlig unbekannt waren, ist grenzenlos. Ich möchte diese Terra incognita erforschen und mit eigenen Augen sehen, was im Dunkeln und Verborgenen lebt. Jede Nacht ist anders. Jahreszeit, Temperatur, Luftfeuchtigkeit, und die An- oder Abwesenheit des Mondes wirken sich auf das Flugverhalten der nächtlichen Besucher aus. Die besten Nächte zum Leuchten sind jene windstillen, stockdunklen Tropennächte bei Neumond, in denen der Leuchtschirm vor Insekten wimmelt. Auch die Uhrzeit spielt eine Rolle. Während manche Falter eher früh in der Nacht ans Licht kommen, erscheinen andere erst nach Mitternacht. Ein Schwärmer umfliegt mich lange mit lautem, hektischem Schnarren, bevor er sich auf dem Leuchtschirm niederlässt. Die meisten Falter landen allerdings still und leise und sind zunächst nur als dunkle Silhouetten erkennbar. Die Vielfalt ihrer Formen und Größen ist beeindruckend. Erst im Lichtstrahl der Taschenlampe werden die wunderbaren Farben und Muster der auf den ersten Blick unscheinbaren Wesen sichtbar: leuchtender Farbenstaub auf den Flügeln, in deren zarter Schönheit sich die Flüchtigkeit aller Dinge manifestiert.
Die in diesem Buch abgebildeten Malereien von Nachtfaltern sind Teil des Projektes WITNESS TO CHANGE, an dem ich, gemeinsam mit dem Landschaftsökologen Thomas Zuna-Kratky, seit 2015 arbeite. Wir erforschen aus künstlerischer und naturwissenschaftlicher Perspektive den Wandel der Landschaft im unteren Kamptal (Niederösterreich) durch den anthropogenen Fortschritt im Zeitraum der letzten hundert Jahre und zeigen dessen Einfluss auf die Biodiversität am Beispiel der Veränderung des Artenspektrums der Schmetterlinge. Diese Insektengruppe spielt eine essentielle Rolle im Ökosystem und ist ein wichtiger Bioindikator für die Erfassung ökologischer Zustände eines Gebietes. Leben und Fortpflanzung dieser Tiergruppe sind nicht nur an bestimmte klimatische Bedingungen und Landschaftstypen, sondern in vielen Fällen an das Vorkommen einzelner Pflanzenarten gebunden. Wir leuchten jährlich von März bis November mehrmals pro Woche an geeigneten Landschaftspunkten die ganze Nacht hindurch. Die durch das UV-Licht angelockten Falter werden fotografisch festgehalten und bestimmt.
Während der Fokus in der Naturwissenschaft auf der lückenlosen systematischen Erfassung und Bestimmung jedes noch so kleinen Falters liegt, ist mein Zugang emotionaler und sinnlicher Natur. Die vergrößerten Darstellungen besonders ausdrucksstarker Nachtfalter illustrieren die Diversität der weitgehend unbekannten und unbemerkten Spezies in all ihren Details. Schicht für Schicht wird die samtige Gouache-Farbe in dünnen Lasuren auf das Holz aufgetragen. Die Strukturen der von Wind und Wetter gezeichneten alten Dachschindeln einer abgedeckten Almhütte verschmelzen mit den gemalten Texturen der Falter zu einer Einheit, die für mich die Verwobenheit der Lebewesen mit ihrem Lebensraum widerspiegelt.
Meine Malereien inspirierten Astrid*Walenta zu ihren lyrisch-assoziativen Miniaturtexten, als Hommage an den jeweiligen Falter.
In Zeiten von Biodiversitätsverlust und fortschreitendem Insektensterben wollen wir diese nächtlichen Wunderwesen in Bild und Poesie auf die Bühne holen und unsere Wertschätzung für sie zum Ausdruck bringen. Die Zartheit der Geschöpfe, ihre Schönheit und ihre vollkommene Abhängigkeit an für sie geeignete Lebensräume verweisen auf unsere eigene Zerbrechlichkeit, unsere zutiefst verleugnete Verbundenheit mit dem fragilen Ökosystem. Es gibt keine Trennung – wir sind die Schmetterlinge.
(Maria Hubinger)
Ich lieh mir die Flügel der Nachtfalter. (Astrid*Walenta)
[bilder: maria hubinger | texte: astrid*walenta]